Montag, 23. August 2010

Taxifahrer des Jahres (Taxi, Taxi IV)

Zunächst muss ich etwas ausholen und auf die Verkehrssituation hier in Damaskus zu sprechen kommen. Sie ist im Vergleich zur durchreglementierten StVO extrem bescheiden. Ampeln gibt es nur ab und an, Zebrastreifen noch seltener, Blitzer erst seit kurzem, und all das interessiert eigentlich auch niemanden. Na gut, die Blitzer vielleicht schon. Mag ja niemand Strafe zahlen. Aber das Damaszener Verkehrsproblem hat weniger mit überhöhter Geschwindigkeit zu tun, sondern mehr mit völlig überfüllten Straßen. Und wer steht schon gerne im Stau oder Stop-and-go? Also wird gedrängelt, gehupt, geschnitten was das Zeug hält. Niemand kommt auf die Idee, dass dieses Verhalten kontraproduktiv ist und den Verkehrsfluss nicht wirklich beschleunigt. Es führt eher zu Situationen, in denen schließlich gar nichts mehr, weder vor-, noch rück-, noch seitwärts geht und alle sich mühsam irgendwie aus der Verknotung von mehr Autos als Fahrstreifen mühen, inklusive dem aus der Seitenstraße kommenden LKW, der jetzt die komplette Fahrbahn blockiert und nicht mehr wegkommt, weil die Autos ihn eingekesselt haben in der Hoffnung, noch irgendwie an ihm vorbeizukommen. Aber anstatt Schildern wie in Deutschland, die besagen "Reißverschlußverfahren anwenden", gibt es Schilder "Zwischen 6 Uhr abends und 6 Uhr morgens Hupen verboten". Ich habe da mal eine interessante Theorie gelesen, dass der Araber gesellschaftlich sozialisiert ist und die Abgeschiedenheit in seiner "Auto" genannten Blechbüchse durch Kommunikation mit der Außenwelt (sprich: Hupen) kompensiert.

Trotz dieses völlig ungeordneten Verkehrschaos, das mehr an das Gewimmel von Kleinstlebewesen in der Ursuppe erinnert denn an eine geordnete Ameisenprozession, hält sich die Zahl der Unfälle in Grenzen. Und die wenigen Unfälle, die dennoch passieren, evozieren vorrangig Blech- und kaum Personenschaden. Schnell fahren geht ja nicht, ist ja alles verstopft, und Unfälle bei Schritttempo sind naturgemäß weniger dramatisch als Unfälle bei 130 km/h. Der klassische Unfall geht in etwa so: Fahrer 1 wechselt schnell mal auf die rechte Spur, weil der stehende Verkehr dort 50m weiter vorne steht, als auf der linken Spur. Fahrer 2 kommt aus der Seitenstraße und rammt dabei dann entweder Fahrer 1 oder andersherum. Auch plötzliche Bremsungen verursachen zahlreiche Unfälle dieser Art, Sicherheitsabstand ist schließlich was für Warmduscher. Viel mehr als ein paar Kratzer im Lack und ein bisschen gesplittertes Plastik passiert dabei nicht, aber das Prozedere muss eingehalten werden: die Fahrer steigen aus, betrachten sich den katastrophalen Schaden, beschimpfen sich gegenseitig lautstark ob der geringen Fahrkünste des anderen und nach einer Weile des Lamentierens steigen sie wieder in ihr Auto und fahren weiter. Sofern der Schaden nicht ausnahmsweise enorm ist, wird der Unfall schließlich so hingenommen, keine Nummern ausgetauscht, keine Versicherung (woher auch?) auf Trab gebracht, den kleinen Schaden behebt der Cousin der Tante der Großmutter als Gefälligkeit zum Sonderpreis. Ich frage mich, ob gemäß obiger Theorie, ein kleiner Auffahrunfall nicht auch vor allem zur Kommunikation mit der Außenwelt inszeniert, eventuell gar bewusst herbeigeführt wird, um der stummen Blechbüchse zu entkommen.

Nun war ich vor kurzem selbst zum ersten Mal direkter Zeuge eines solchen Unfalls und er wollte sich so gar nicht in das Schema fügen, das ich aus meinen bisherigen Beobachtungen herauskristallisiert hatte. Ich sitze im Taxi und schaue so ziellos Löcher in die Luft, als es RuMs macht. Ich falle etwas nach vorn an den Beifahrersitz, aber sonst passiert nichts. Den überfüllten Straßen sei Dank, ich bin immerhin unangeschnallt, anschnallen ist hier ein ähnlich absurdes Konzept wie das Reißverschlussverfahren. Na immerhin, der Beifahrersitz vorne hat meist einen Gurt. Aber da steigt Frau ja nicht ein. Was ist nun passiert? Mein Taxi hat ein anderes Taxi von hinten erwischt. Warum weiß ich nicht, ich hab ja schließlich Löcher in die Luft geguckt. Wahrscheinlich hat der Fahrer vor uns gebremst, und mein Fahrer nicht - oder später als angebracht. Och nö, denke ich, jetzt muss ich hier zehn Minuten sitzen und mir das Gemecker anhören, sowas wie "Du bist Schuld, Sohn eines Esels, du kannst kein Auto fahren, man sollte dir den Taxischein wegnehmen." - "Nein du bist Schuld, du hast nicht aufgepasst. Ich hatte noch nie einen Unfall!". Mein Fahrer fährt den Wagen an den Straßenrand - schon das ein Wunder, es ist doch viel cooler nach einem Unfall mitten auf der Straße stehen zu bleiben und alle anderen an diesem Drama teilhaben zu lassen - und steigt aus. Der Fahrer des anderen Wagens steigt ebenfalls aus und - sie schütteln sich die Hände! Nein sowas, keine Schimpftiraden? Hey, wir sind dir hintendraufgefahren, das kann doch nicht unkommentiert gelassen werden! Aber nein, sie betrachten kurz den Schaden - ein bisschen gesplittertes Plastik, ein paar kleine Kratzer - , beschließen vermutlich, dass es die Mühe nicht wert ist, verabschieden sich und steigen jeder wieder in sein Taxi. Weiter geht die Fahrt.

Wow, ein (nein, zwei!) seelisch ausgeglichene Taxifahrer, gelassen, besonnen, unaufgeregt. Wo hat es das schonmal unter der Sonne gegeben? Und dann zieht er mir am Ende auch nicht das Geld aus der Tasche und flirtet mich nicht an. Wenn ich ihn einmal wiedersehen sollte (was in einer Stadt mit mehr Taxis als normalen Autos unwahrscheinlich ist), dann mache ich ein Bild von ihm und ernenne ihn zum Taxifahrer des Jahres!

Taxi, Taxi VII
Taxi, Taxi VI
Taxi, Taxi V
Taxi, Taxi III
Taxi, Taxi II
Taxi, Taxi

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