Nagib Machfuz ist der erste arabische Literaturnobelpreisträger. Und das vollkommen zu recht. Nach dem schmalen Bändchen
"Die Reise des Ibn Fattuma" habe ich mich nun seinem wohl bekanntesten Werk zugewandt, der
Kairo-Trilogie
Diese drei Bände mit den Namen "Zwischen den Palästen", "Palast der Sehnsucht" und "Zuckergässchen" (Baina-l-Qausain, Qasr as-Schauk, Sukkariya - die Namen der Straßen, in denen die Protagonisten leben; das hätte die Übersetzerin für die nicht des arabisch mächtigen Leser ruhig als Fußnote erwähnen können) erzählen vom Leben einer ägyptischen Kaufmannsfamilie in und zwischen den beiden Weltkriegen und lassen so ein großes Mosaik ägyptischen Lebens entstehen. Machfuz wurde schon verglichen mit anderen Autoren wie Balzac, Dickens, Tolstoi, Gorki, Mann; seine Kairoer Trilogie mit Familiensagen wie etwa den "Buddenbrooks"*.
Herr Achmed Abd al-Gawwad ist das unangefochtene Oberhaupt der Familie und herrscht mit eisener Strenge, die dem Leser eine Reaktion irgendwo zwischen Stirnrunzeln und Abscheu abnötigt - man erinnere sich stets daran, dass die Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist, und auch, dass das gestrenge Gebaren dieses Patriarchen von so ziemlich allen anderen Familien um ihn herum etwas verwundert betrachtet wird. Dennoch, seine zweite Ehefrau Amina (die erste hat er verstoßen, weil sie gegen seinen Willen ihren eigenen Vater besucht hat...) ist durchaus glücklich und zufrieden mit ihrem "Gebieter", auch wenn er sie nicht aus dem Haus gehen lässt, nicht einmal, um zur Moschee zu gehen. Die al-Gawwads haben fünf Kinder: Jasin (noch aus erster Ehe), Fahmi, Kamal, Chadiga und Aischa. "Zwischen den Palästen", der erste Teil der Trilogie, stellt uns diese Familie vor, erzählt von ihrem Alltag, Amina zwischen Kindern und Küche, die Kinder in ihren Zankereien und Abenteuern daheim und in der Schule, der Hausherr in all seiner Strenge daheim und seiner ausgelassenen, weinseligen Fröhlichkeit nach der Arbeit mit Freunden und Gespielinnen. Einige der älteren Kinder werden unter die Haube gebracht, ist Heirat doch für einen jeden ein Lebensziel. Wie auch in den zwei folgenden Teilen gilt: eigentlich passiert wenig Spektakuläres, aber das Unspektakuläre ist so charmant, glaubwürdig und - besonders im bestimmt nicht zu kurz kommenden Bereich der sexuellen Begierde - witzig geschildert, dass man das Buch kaum wieder aus der Hand leben mag. Auch das Politische ragt ins Private, die Unruhen rund um die Forderung nach Ägyptens Unabhängigkeit beschäftigen die politisch gestimmten Gemüter, und bringen letztlich viel Unheil über die al-Gawwads - vor Beginn des Romans ist es im Übrigen überaus hilfreich, sich ein wenig in die Geschichte Ägyptens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzulesen, wenigstens mal in die Wikipedia zu schauen, sonst könnten die vielen Namen und Begriffe ein wenig Verwirrung auslösen. Der erste Teil zieht viel Unterhaltung aus den unschuldig-neugierigen Fragen des erst etwa zehn Jahre alten Kamal, der von den verfänglichen Beziehungen zwischen Mann und Frau oder zwischen Ägypten und England noch nichts weiß.
Während der erste Teil uneingeschränkt fünf Sterne verdient, brechen der zweite, und ein wenig auch der dritte Teil, ein. Den weitaus größten Teil der Handlung bestimmt im "Palast der Sehnsucht" der jugendlich gewordene Kamal mit seiner ersten großen Liebe. Zwar sind seine romantischen Anwandlungen zunächst eine willkommene Abwechslung gegenüber den rohen Begierden so ziemlich aller anderen Männer, besonders seines Vaters Achmed und seines Brudes Jasin, auch die blumigen Liebesverse, die aus der Wortgewalt des Arabischen schöpfen, sind anfangs noch ganz nett zu lesen. Aber irgendwann ist es dann auch genug, doch wenn dieses Gefühl einsetzt, hat man bestenfalls die Hälfte von Kamals Gefühlsduselei hinter sich gebracht. Die anderen Familienmitglieder kommen fast nur am Rande vor. Zwar wird Aisha noch etwas überaus Dramatisches widerfahren, wogegen Kamals Liebeskummer sich äußerst harmlos ausnimmt, aber erst zum Schluss des Buches, mal eben so auf einer Seite und einer halben.
Teil drei schließlich, "Zuckergässchen", ist besser als der zweite, aber nicht so gut wie der erste Teil. Die Handlung ist wieder breiter gestreut, Kamal hat seine Liebeswehen einigermaßen überwunden, und leidet jetzt allgemein an der Sinnlosigkeit der Existenz, seiner Unfähigkeit, irgendeinen Standpunkt einzunehmen, dem Clash seiner wissenschaftlichen und religiösen Überzeugungen (ein sehr interessanter Handlungsstrang!) und dem Druck seiner Familie, jetzt aber langsam mal in die Pötte zu kommen und zu heiraten. Jasin schafft es nach mehreren Fehlschlägen schließlich, eine Frau zu finden, die er nicht nach wenigen Tagen wieder in die Wüste schickt, weil ihr sein Fremdgehen nicht gefällt. Chadiga lässt es sich gut gehen in ihrer Rolle als Hausdrachen. Amina und Achmed werden alt, er altersmilde, sie vom Leben gezeichnet, aber immerhin endlich in der Lage, das Haus auch mal zu verlassen. Ansonsten gehört der dritte Teil den Enkeln, Radwan, Karima, Abd al-Munim und Achmed. Diese sind nicht mehr die allgewaltige Strenge gewohnt, wie sie einst von Herrn Achmed ausging, sie setzen sich gar solche Dinge in den Kopf, wie sich selbst eine Ehefrau auszusuchen, ohne Beachtung von Standesfragen, ob das der Familie nun passt oder nicht. Während im zweiten Teil völlig abhanden gekommen, schlägt die Politik im dritten Teil doppelt stark durch. Wir befinden uns im zweiten Weltkrieg, man ist eigentlich nicht so richtig aber doch irgendwie für Deutschland, weil man gegen England ist, Ägypten strauchelt weiterhin um seine Unabhängigkeit. Die Kluften ragen bis in die Familie al-Gawwad hinein: im gleichen Haus in der Sukkariye finden, organisiert von den Brüdern Abd al-Munim und Achmed, geheime Treffen sowohl von Muslimbrüdern, als auch von Kommunisten statt. Soweit ist der dritte Teil sehr gut, ich fand es aber etwas schwierig, mich in die neuen Protagonisten einzulesen, die in der Kürze eines einzelnen Buches etwas oberflächlich bleiben, während die gewohnten Charaktere schon tausend Seiten Zeit hatten, sich zu entwickeln, und im Herzen des Lesers Wurzeln zu schlagen. Dies gelingt sogar dem geliebt-gefürchteten Familienoberhaupt, das die Familiensaga eröffnet und auch wieder beendet, selbst um ihn ist man letztlich recht traurig.
Ich hoffe, ich habe nicht zu viel gespoilert, kurz gesagt: das Buch, bzw. die Bücher, sind absolut lesenswert und im Gesamtwerk kann man auch über kleinere Schwächen hinwegsehen. Fünf Sterne, ganz klar. Ich werde jedenfalls alles, was ich hier in der Bibliothek von Machfuz finde, verschlingen. Lesen!, wie Frau Heidenreich sagen würde, und das ist ein Befehl.
Ansonsten in letzter Zeit gelesen: Lion Feuchtwanger - Die Jüdin von Toledo, eine jüdisch-christlich-königliche Liebe und ihre Folgen im spanischen Mittelalter, ein Klassiker, spannend, lehrreich, weise, überraschend flüssig zu lesen, ebenfalls ohne jeden Zweifel fünf Sterne;
*Thomas Mann - Die Buddenbrooks, vergleichshalber, natürlich auch sehr gut und fünfsternig, der Vergleich von Mann und Nachfus erfolgt hier zurecht, mein Buddenbrook'sches Lieblingszitat: "Nicht mal die Lampen sind angezündet - Dat geiht dann doch tau wied mit de Revolution!"